Ansgarikirchhof
Ansgarikirchhof
Siehst du die Säule da? Die Bronzesäule, die von einer aufgeschlagenen Bibel, einem Schiffsrumpf und einem Kreuz gekrönt ist? Die an Ansgar von Bremen, den „Apostel des Nordens“, erinnert? Ja? Hast du sie entdeckt, die Ansgar-Säule? Gut, dann schließe deine Augen und blende aus, was dich umgibt. Blende die Tauben aus, die gurrend um dich herumtippeln; das WLAN, das hier gratis ist; die Menschen, die mal eilig, mal gemütlich den Platz queren. Blende all das aus, und dann – stelle dir eine Kirche vor! Eine von drei Giebeldächern geschützte, mit breiten Wänden und hohen Decken versehene Hallenkirche, aus der ein riesiger, mit Sandstein überzogener Turm ragt. Und auf den Turm setzt du einen glockenförmigen Helm, den eine steil zulaufende, weit in den Himmel ragende Spitze ziert. So weit, dass sie jedes andere Altstadtgebäude, ja sogar die Domtürme überragt. Und nun – schaue sie dir an! Schaue dir an, wie schön sie ist, die alte St. Ansgarii-Kirche. Wie prächtig, wie erhaben.
Doch wo ist sie geblieben, magst du dich fragen. Wo ist die Kirche hin, in der die erste Protestantenpredigt auf Bremer Boden erklang? Wohin der Turm, den einmal der berühmte Carl Friedrich Gauß bestieg, um vom höchsten bremischen Punkt aus die norddeutschen Lande zu vermessen? Und wohin das Marmordenkmal, auf dessen Sockel der heilige Ansgar einem nackten Jungen das heidnische Joch von den Schultern nahm? Wo all das hin ist, willst du wissen? Das will ich dir sagen: Vom Erdboden getilgt ist sie, die alte St. Ansgarii-Kirche. Von Menschenhand errichtet, von Menschenhand zerstört. Und zwar damals, im Krieg, als es Bomben auf Bremen hagelte. Als erst die Kirchenfenster barsten und sich Risse ins Gewölbe fraßen. Als immer öfter die Erde unter dem Gotteshaus bebte und sein Gemäuer bröckelte. Als dann eine Sprengbombe schräg unter den Ansgarii-Turm krachte und ein tiefes Loch in sein Fundament riss. Als auch keine Stützbalken, keine Gebete mehr halfen – und der gemauerte Riese schließlich in die Knie ging. Mit einem Grollen, das in den Ohren pfiff, und umhüllt von einer dichten Staubwolke fiel der Ansgarii-Turm in sich zusammen. Fiel und begrub unter sich die Kirche mitsamt all den unzähligen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten, die sie über all die Jahrhunderte aufgenommen hatte.
Nach dem Krieg war das Schicksal des nun in Trümmern liegenden Stolzes der Bremerinnen und Bremer lange ungewiss: Sollte sein Rumpfskelett einem Wiederaufbau dienen? Oder doch eher kommenden Generationen ein Mahnmal sein? Weder noch! Ihrem Denkmalschutz beraubt, machte man die wertlose Ruine dem Erdboden gleich. Mit Baggern und Presslufthämmern, um Platz zu schaffen. Platz für ein Kaufhaus. Für Konsum. Für das Vergessen. Heute erinnert auf dem Ansgariikirchhof, auf dem du meinen Worten lauschst, nur noch ebenjene Säule an den Prachtbau, der früher so viele Ansichtskarten, so viele Fotoalben geschmückt hat. Doch ich will dir was verraten: An anderen Orten, da findest du noch Überreste der alten Ansgarii-Kirche! Zwar nicht viele, aber doch ein paar. Du musst sie nur suchen! Suche an Orten wie der Liebfrauenkirche, die man nach dem Krieg auch mit Ansgarii-Steinen wieder zusammenflickte. Oder dem Focke-Museum, das einen steinalten Ansgarii-Grabdeckel und ein noch älteres Abendmahlsrelief beherbergt. Vor allem aber suche in Schwachhausen, wo die neue Heimstätte der Ansgarii-Gläubigen steht, und halte Ausschau nach der Kanzel und der Orgelverkleidung, nach der Margaretaglocke und der Wetterfahne. Suche und finde sie – die letzten Überbleibsel der alten Ansgarii-Kirche. Dem einstigen Bremer Wahrzeichen, das fast komplett verschwunden ist. Aber eben nur fast.